Im Kreisarchiv Barnim sind wir in der 10-kg-Akte VA 395 (Haushaltsunterlagen des Kreises, 1951-56) auf folgenden Vorgang gestoßen:

Im Jahre 1949 ist in Mehrow (und wahrscheinlich auch anderswo) der Bau der dringend benötigten Neubauernhäuser ins Stocken geraten, weil es an allem möglichen Baumaterial, vorallem aber an Kalk gemangelt hat. Den sollte es wohl auf Zuteilung geben, aber wo nichts zu verteilen war ...

Da haben sich die Mehrower umgesehen und in Basdorf einen Baustoffhändler entdeckt, der Kalk zu bieten hatte - möglicherweise nicht ganz legal beschafft und reichlich überteuert, aber immerhin! Weil Basdorf nun aber nicht gleich vor der Tür liegt und es weder angedacht noch machbar war, daß sich jeder dort seine Portion selbst abholt, hat sich in dieser Sache der (sicher mehrheitlich selbst betroffene) Gemeinderat ins Zeug gelegt. Da in der Situation bestimmt schnell zu handeln war, hat der Gemeinderat erstmal alles was an Kalk zu haben war aus der Gemeindekasse bezahlt, mit der Bahn nach Ahrensfelde bringen lassen und von dort mit Fuhrwerken oder LKW's nach Mehrow geschafft.

Hier wurde der Kalk dann an die Neubauern verteilt, die dann anteilig die Gesamtkosten des Vorgangs zu tragen hatten und sicher gern getragen haben, konnten sie doch endlich mit dem Häuslebau fortsetzen.

Daß dieses aus der Not geborene und vermutlich allerorts ausgeübte Verfahren der Materialbeschaffung die Möglichkeiten einer staatlichen Verteilung noch mehr eingeschränkt hat, ist klar und damit auch, daß die Behörden sauer darauf reagiert haben.

Das Haar in der Suppe war auch schnell gefunden: Erstens wurde für den so beschafften Kalk mehr bezahlt, als erlaubt, und zweitens hat die Gemeinde alle angefallenen Kosten, einschließlich der für den aufgetretenen "Schwund" auf die Endabnehmer umgelegt, was ansich ganz logisch ist. Das war dann aber den Behörden Anlaß genug, die Gemeinde mit einem sogenannten Mehrerlösabführungsbescheid abzustrafen. Mit Schreiben vom 13.10.50 fordert das zuständige Finanzamt die Abführung des vermeintlichen Gewinnes:

Finanzamt Bernau                          Bernau, den 13.10.50
Preisstelle
G.Z. B 760/50

                  Mehrerlösabführungsbescheid

Bei der preisrechtlichen Überprüfung der Bauvorhaben gemäss Befehl 209 wurde festgestellt, dass Sie Überpreise gefordert und erhalten haben. Es liegt daher ein Verstoss gegen Vorschriften bezw. Anordnungen auf dem Gebiet des Preisschutzes vor.

Beweis:
Für 12,1 to Hydrl.Kalk forderten und erhielten Sie
                              
(134,- je to) Dmk. 1.621,40

Zulässig ist: 12,1 to a 54,65 = 661,27
Kosten nach Ihren Angaben:
Fracht                          134,90
Arbeitslohn                      29,70
Abfuhr                           85,-
---------------------------------------
                insgesamt: Dmk. 910,87              910,87
                                           
    -----------
M
ithin entstand für Sie ein Mehrerlös von      DMk. 710,53

Von hier kann nur der 1944 zulässige Preis anerkannt werden. Eine Genehmigung für den von Ihnen geforderten Preis liegt nicht vor, was aus Ihrer Stellungnahme vom Mai ds.Js. hervorgeht.

Somit haben Sie gegen die Verordnung über das Verbot von Preiserhöhungen vom 26.11.36 (RGBl.I.S. 955 Preisstoppverordnung) sowie gegen den Befehl Nr. 63 verstossen. Gemäss § 4 Absatz 1 der Preisstrafrechtsverordnung in der Fassung vom 26.10.44 (RGBl. Teil I Seite 264) ist der erzielte Mehrerlös abzuführen. Und zwar:

                                   
Mehrerlös  DMk. 710,53
          
2% Auslagen gem. PrStRVO.§37 Abs. 2        14,21
                      
-----------------------------------
                                              
DMk. 724,74
...

Von der Verhängung einer Ordnungsstrafe wurde abgesehen, da Ihr Preisverstoss unter das Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 9.11.49 fällt. Es ist daher nur der erzielte Mehrerlös abzuführen.

                                                    
I.A.
                                                
gez. Garske


So ganz überraschend kam das aber nicht, denn man hatte sich wohl schon ein halbes Jahr mit dem Finanzamt "in der Wolle" und ein wenige Tage zuvor stattgefundener Einigungsversuch war erfolglos verlaufen.
Um größeren Ärger zu vermeiden, hat man sich deshalb schon vor Eingang der Zahlungsaufforderung an die übergeordneten Dienststellen gewandt und den ganzen Vorfall gebeichtet:

Rat der Gemeinde Mehrow                  Mehrow, 12. Oktober 1950

an:
Herrn Landrat Bey, Bernau bei Berlin
Kreisleitung der SED, Bernau bei Berlin
Kreisrat Schmidt, Bernau bei Berlin


Gegen den Rat der Gemeinde Mehrow ist seit April 1950 ein Verfahren wegen Preisüberschreitung in der Erstellung von Bneubauernhäusern beim Finanzamt Niederbarnim in Bernau Abt. Preisstelle eingeleitet worden.

Nach dem am 10.10.50 stattgefundenen Termin wurde uns vorerst mündlich mitgeteilt, dass dem Rat der Gemeinde ein Mehrerlösabführungsbescheid zugestellt wird. Da die Gemeinde Mehrow weder ein Mehrerlös noch irgend welchen Verdienst aus dieser Sache gehabt hat, bitten wir Sie, in dieser Angelegenheit persönlich einzuschalten.

Hierzu geben wir Ihnen nachstehend einige Erläuterungen:

Die Durchführung der Bauvorhaben gemäß Befehl 209 drohte im Mai 1949 infolge Mangel an Baustoffen, vor allem an Kalk, ins Stocken zu geraten. Rücksprachen mit der Landbau und der Oberbauleitung 209 waren ergebnislos. Kalk konnte uns von keiner Seite zur Verfügung gestellt werden. Auf Anraten der Oberbauleitung haben wir uns an die Fa. Erich Dermitzel, Baustoffhandlung in Basdorf, gewandt. Da der Bau der Neubauernhäuser unbedingt vorwärtsgetrieben werden sollte, haben wir einen Waggon Kalk zum Preis von 4,80 DM pro Ztr. gekauft.

Es wurden insgesamt 288 Ztr. zum Preise von 1.382,40 DM gekauft.

An Unkosten sind entstanden:

Fracht für Reichsbahn - 134,90 DM
Arbeitslohn f. Abladen - 29,70 DM
Abfuhr an Baustellen -   85,-  DM
                        ---
------
                       
249,60 DM

Die Verteilung wurde vom Bauleiter der Landbau vorgenommen. Es wurden 242 Ztr. als ausgegeben gemeldet. Über den Verbleib des Restes konnten keine Angaben gemacht werden.

An Kosten waren uns somit 1.632.- DM entstanden, die auf 242 Ztr. zu verteilen waren. Es ergab sich daher der Betrag von 6,70 DM pro Ztr.

                                        
Der Rat der Gemeinde
                                              
[Ender]
                                          
Der Bürgermeister

Der angesprochene Landrat hat dann offenbar beim Finanzamt nachgefragt, warum denn solche harten Bandagen angelegt werden und bekam darauf folgende Antwort:

Preisstelle                              Bernau, den 23.10.50

An den
Rat des Kreises Niederbarnin
z.Hd. d. Herrn Landrat Bey

Bernau
Breitscheidtstrasse


Betr.: Mehrerlösverfahren gegen die Gemeinde Mehrow
Bezug: Schreiben der Gemeinde Mehrow vom 12.10.1950

Der Rat der Gemeinde Mehrow führt mit dem o.g. Schreiben Beschwerde darüber, dass von der Preisstelle gegen die Gemeinde ein Mehrerlösverfahren durchgeführt wird.

Hierzu folgender Sachverhalt:

Im Zuge der Durchführung der Bauvorhaben gemäss Befehl 209 beschaffte die Gemeinde Mehrow mit Hilfe der Firma Dermitzel, Baustoffhandlung in Basdorf Kalk für die Errichtung von Neubauernhäusern. Es wird von der Preisstelle keineswegs verkannt, unter welchen Schwierigkeiten die Errichtung der Neubauernhäuser durchzuführen war.

Welcher Zustand infolge dieser planlosen Beschaffung von Material zu überhöhten Preisen eingetreten ist, braucht wohl nicht gesondert erörtert werden.

Die Folge dieses planlosen Beschaffens von Material war der fast gänzliche Stillstand des Bauprogramms 209.

Aus diesem Grunde erhielten die Preisstellen den Auftrag, sämtliche Rechnungen der Neubauern zu überprüfen und die Mehrerlöse einzuziehen.

Damit sollte die Gewähr der Fortsetzung dieses großen Bauprogramms gegeben werden.

Dem Rat der Gemeinde Mehrow war es bekannt, auf welche Art und Weise die Fa. Dermitzel den Kalk beschaffte. Es war nunmehr Angelegenheit des Rates der Gemeinde diesen Schwarzhandel zu unterbinden und nicht noch zu unterstützen. Der richtige Weg wäre gewesen, sich mit der Abteilung für Planung in Verbindung zu setzen und die Materialien ordnungsgemäß zu verteilen.

Wir haben uns daher veranlasst gesehen, gegen die Gemeinde Mehrow ebenfalls wie gegen alle anderen Firmen, welche Preisverstöße begangen haben, ein Mehrerlösverfahren durchzuführen.

Gegen die Firma Dermitzel als Urheber läuft ein besonderes Verfahren.

                                                  
I.A.
                                                
(Garske)
                                         
kom. Preisstellenleiter


Ganz konnte der Landrat wohl dieser Argumentation nicht folgen - vermutlich, weil er mit den Füßen noch auf jenem Boden stand, von dem die Finanzbeamten als Vollstrecker der Landesregierung schon abgehoben hatten ...

Im November 1950 schildert der Landrat dem Finanzministerium den Vorfall aus seiner Perspektive, die dem wahren Sachverhalt wohl ziemlich nahe kommt und die Gemeinde entlastet:

Rat des Kreises Niederbarnim        Bernau, den 21. November 1950
- Abteilung Finanzen -              Villa Erb
- Gemeindehaushalt -                Ruf: 891
G.Z. 320 - 13 -                     Sachbearbeiter: Schulz


An die
Landesregierung Brandenburg
- Herrn Minister der Finanzen -
- Abteilung Haushalt -
in Potsdam

Betr.: Mehrerlösverfahren des Finanzamtes Bernau gegen den Rat der Gemeinde Mehrow
Bezug: ohne

Im Zuge der Baumaßnahmen gemäß Befehl 209 lieferte die Firma Dermitzel in Basdorf, 12,1 to Hydrl.Kalk an die Neubauern der Gemeinde Mehrow.

Zur Vereinfachung des Zahlungsverkehrs wurde der gesamte Kalk durch den Rat der Gemeinde vorschußweise bezahlt und die anteiligen Beträge später von den Neubauern zurückgefordert.

Nachdem der Kalk restlos verteilt war stellte sich heraus, daß ein Fehlbetrag von ca. 21 dz. eingetreten ist. Der Rat der Gemeinde Mehrow hat die Kosten für den Kalk um den Fehlbetrag erhöht, um hierduch den Vorschuß abdecken zu können.

Das Finanzamt Niederbarnim -Preisstelle- hat unter dem 13.10.50 ein Mehrerlösverfahren gegen den Rat der Gemeinde Mehrow eingeleitet mit dem Ziel, den Betrag von 724,74 einschließlich Auslagen von der Gemeinde einzuziehen.

Da Haushaltsmittel für diesen Zweck nicht zur Verfügung stehen, und dem Rat der Gemeinde tatsächlich kein Mehrerlös zugeflossen ist, ersuchen wir um Mitteilung, wie im vorstehenden Fall zu verfahren ist, gegebenenfalls bitten wir Verhandlungen mit dem Landespreisamt dahingehend zu führen, daß die Abführung des angeblichen Mehrerlöses dem Rat der Gemeinde erlassen wird.
                                                
I.A.


Das bleibt dann auch nicht ohne Erfolg: Zwei Monate später (Januar 1951) wird zunächst die Vollstreckung des Zahlungsbescheides ausgesetzt und im September 1951 dann das Verfahren ganz eingestellt:

Landesregierung Brandenburg                  Potsdam, 19.1.1951
Minister der Finanzen

An den Rat des Kreises Niederbarnim
Bernau


Betr.: Mehrerlösverfahren des Finanzamtes Bernau gegen die
       Gemeinde Mehrow
Bezug: Dort. Schreiben vom 21.11.50 - GZ. 320 - 13 -

In obiger Angelegenheit haben wir bereits Verhandlungen mit dem Landespreisamt aufgenommen. Eine Abführung des Mehrerlöses bitten wir vorerst nicht vorzunehmen. Zu gegebener Zeit erhalten Sie weitere Nachricht.
                                             
Im Auftrage
                                              
(Westphal)
                                               
Referent

Rat des Kreises Niederbarnim       Bernau, den 14. September 1951
Abteilung Finanzen
- Villa Erb, Zimmer 7
- Gemeindehaushalt -
G.Z. 320 - 3 -

An den
Rat der Gemeinde
in Mehrow


Betr.: Mehrerlösverfahren des Finanzamtes Bernau.
Bezug: Dort. Schreiben vom 12.10.51

Mit Schreiben vom 5.9.51 teilt uns die Landesregierung Brandenburg mit, daß nach Mitteilung der Landesfinanzdirektion Brandenburg vom 24.8.51 das Finanzamt Bernau -Gruppe Preise- Anweisung erhalten hat, von der Einziehung der aus dem Abführungsbescheid vom 13.10.50 gegen die Gemeinde Mehrow bestehenden Schuld vom 710,33 DM abzusehen ist.

                                                 
I.A.

Es bleibt also nur die eher philosophische Frage, ob die Leute sich den Kalk "schwarz" beschafft haben, weil es auf Zuteilung keinen gab, oder ob keiner zugeteilt werden konnte, weil er "schwarz" unter die Leute gebracht wurde - eine Frage, die nie beantwortet werden konnte, obwohl sie noch 40 Jahre lang immer wieder gestellt wurde ...