In wenigen Tagen (Ende April / Anfang Mai 2004) jährt sich das Ende des letzten Krieges zum 59. Mal. Bis zum nächsten "runden" Jahrestag ist also noch etwas Zeit, aber wir wollen schon mal das Augenmerk darauf richten.

Mehrow liegt am östlichen Berliner Stadtrand und war damit in die dramatischen Tage des "Sturms auf Berlin" einbezogen, ist aber dabei ebenso glimpflich davon gekommen wie überhaupt während des zweiten Weltkrieges. Hier gab es den Erzählungen nach während des Krieges weder bemerkenswerte Truppenstationierungen, noch größere Kriegsschäden oder Kampfhandlungen.

Ein paar wenige, vielleicht eine Handvoll Bomben sind auf Mehrow gefallen, abgeworfen von englischen und amerikanischen Bombern, die ihre Ladung nicht über Berlin abwerfen konnten und sich ihrer vor dem Heimflug entledigen mussten. Angegriffen wurde bestenfalls der Flak-Scheinwerfer, der sich auf dem ehemaligen Gutshof befunden haben soll. Auf den umliegenden Feldern sollen mit brennenden Fässern Flughäfen vorgetäuscht worden sein, aber diese Täuschungsmanöver haben wohl nicht viel bewirkt.

Bis Mitte April 1945 war es also vergleichsweise ruhig im Dorf. Aber dann rückte die Rote Armee an, die schon im Februar die Oder erreicht hatte, aber dort vor dem großen Schlag auf Berlin ohne wirklichen militärischen Grund mehrere Wochen verharrte. Mitte April setzten die erbitterten Kämpfe des sogenannten "Sturms auf Berlin" ein, die insbesondere auf den nicht sehr weit entfernten Seelower Höhen zu enormen Verlusten auf beiden Seiten führten.

Waffen der Roten Armee (Stalinorgel, Panzer und Haubitze), aufgestellt vor dem Museum in Seelow

Trotz anders lautender Propaganda hatte aber die deutsche Wehrwacht den anrückenden sowjetischen Truppen (für die in diesem Frontabschnitt der Begriff "russische" Truppen unzutreffend wäre) nichts entgegen zu setzen, was diese hätte aufhalten können.
Am 20. April 1945, dem Geburtstag des "Führers", erreichten Vortrupps der Roten Armee den östlichen Berliner Autobahnring und damit die Mehrower Ortsgrenze.

Direkt an der Autobahnabfahrt Blumberg erinnert ein Denkmal daran: mit einem eine Fahne tragenden Soldaten auf der Spitze und einem umliegenden kleinen Soldatenfriedhof.

Das marode Denkmal ist vor ein paar Monaten umzäunt worden, aber dem Vernehmen nach nicht zum Schutz der Gedenkstätte, sondern um die dort herum tollende Kinder vor Schaden zu bewahren ...

Auch wenn bis dahin Gelassenheit im Dorf herrschte und nur wenige fort gegangen waren oder ihre Kinder in Sicherheit gebracht hatten, kam nun Bewegung auf.

Mehrow hatte eine größere SS-Siedlung, über die wiederholt in den Medien berichtet wurde und man musste davon ausgehen, dass die anrückenden sowjetischen Truppen davon Kenntnis hatten. Wie die "Russen" reagieren würden und ob sie zwischen SS- und anderen Bewohnern Unterschiede machen würden, war ungewiss und so haben sich nicht nur die Bewohner der SS-Siedlung, sondern auch die Mehrzahl der restlichen Dorfbewegung auf die Flucht begeben. Die meisten erst am Nachmittag und Abend des 20. April, als wie gesagt die Rote Armee schon den östlichen Rand des Dorfes erreicht hatte.

Die Rote Armee ist hier auf ein weitestgehend leeres Dorf und auf keinerlei Widerstand gestoßen. Dies und die günstige Lage des Ortes am Berliner Stadtrand waren wohl Gründe dafür, dass sich die sowjetischen Truppen hier im Ort festsetzten und eine Kommandantur (auf welcher militärischen Ebene, ist noch unbekannt) installierten. Das Dorf wurde vorn auf beiden Seiten durch einen Schlagbaum abgeriegelt, die Offiziere zogen in die Bauernhöfe (Thürling, Bredereke) und der "Kommandant" angeblich in den Gasthof "Raetz". Die Kirche wurde zu einer Werkstatt umfunktioniert und ihr Inventar (zumindest die Bestuhlung) wurde auf die Straße geworfen.

Der Einfachheit halber wurde hier angeblich während der Besetzung des Dorfes, die mindestens bis zum Oktober 1945 dauerte, die Moskauer Zeit eingeführt ...

Über die Zeit der Besetzung des Dorfes gibt es Erzählungen älterer Gemeindemitglieder, die wir demnächst zu einem etwas ausführlicheren Bericht verarbeiten wollen. Bildmaterial aus jener Zeit gibt es erwartungsgemäß nicht und auch sonstige Dokumente sind bisher nur sehr vereinzelt aufgetaucht.

Wir haben aber mal in der Literatur und in der damaligen Presse recherchiert, was sich hier in dieser Gegend so um den 20./21. April 1945 zugetragen hat:

Im Buch "Der Kampf um Berlin 1945 / Von den Seelower Höhen zur Reichskanzlei"
schreibt Tony Le Tessier ab Seite 111:

Am Morgen des 21. April überschritt die 2. Garde-Panzerarmee den Autobahnring und wandte sich auf breiter Front gegen das Stadtgebiet von Berlin, allen Widerstand überrollend, während die Brigaden des 12. Garde-Panzerkorps mit der 48. Garde-Panzerbrigade auf der Linie Mehrow-Ahrensfelde-Hohenschönhausen vorstießen, die 86. Garde-Panzerbrigade die Richtung Eiche/Marzahn einschlug und die 49. Garde-Panzerbrigade gegen Hönow/Kaulsdorf angriff, nahm die 34. (mot.) Schützenbrigade ihren Weg über Dahlwitz-Süd - Kaulsdorf - Lichtenberg.

Tony Le Tessier: "Der Kampf um Berlin 1945 / Von den Seelower Höhen zur Reichskanzlei"

Ganz in unserer Nähe haben die sowjetischen Truppen damals die Berliner Stadtgrenze überschritten. Das erste Haus, das sie auf Berliner Territorium erreicht haben - in den Landsberger Allee gegenüber dem jetzigen Straßenbahnhof Marzahn, ist später mit einer Gedenktafel versehen worden, die besagt, dass die sowjetischen Truppen am 21. April 1945 in Berlin eingerückt sind (siehe oben).

F.J.Bokow, Generalleutnant der 1. Belorussischen Front und Mitglied des Kriegsrates der 5. Stoßarrnee schreibt in seinem Buch "Frühjahr des Sieges und der Befreiung", erschienen im Militärverlag der DDR:

Im Morgengrauen des 20. April begann das 26. Gardschützenkorps zusammen mit dem 12. Gardepanzerkorps der 3. Stoßarmee den Angriff. Sie stießen 12 Kilometer vor und erreichten gegen Abend die Linie Wesendahl-Strausberg-Gartenstadt. Zu diesem Zeitpunkt näherte sich das 32. Schützenkorps Strausberg und trat hier in harznäckige Gefechte; das 9. Schützenkorps nahm die Ortschaften Garzin, Hohenstein und Gladowshöhe.
Angesichts des erfolgreichen Vorstoßes der 47. Armee und der 3. Stoßarmee zur Umgehung Berlins im Norden änderte Marschall Shukow am 21. April die Angriffsrichtung der 5. Stoßarmee. Sie sollte jetzt nicht im Nordosten, sondern von Osten und Südosten zum Sturm auf Berlin antreten. Außerdem wurden die Trennungslinien zu den Nachbarn neu festgelegt.

Als wir uns dem äußeren Verteidigungsring näherten, standen wir folgender Lage gegenüber: Im Im Abschnitt der Seen, des Waldes und des Ortes Strausberg bot der Gegner alle Kräfte auf, um einen Durchbruch seiner Verteidigung zu verhindern und den Weg nach Berlin zu sperren. Rechts von uns ging die 3. Stoßarmee erfolgreich 5 bis 6 Kilometer vor; links hinter uns griff die 8. Gardearmee unter schwierigen Bedingungen gestaffelt an.

Auf Grund dieser Lage beschloß der Kriegsrat der 5. Stoßarmee, den Erfolg des an der rechten Flanke kämpfenden 26. Gardeschützenkops und der benachbarten 3. Stoßarmee auszunutzen. Drei Divisionen erhielten Befehl, am 21. April nachts zusammen mit der 2. Gardepanzerarmee Strausberg in einem schnellen Manöver zu umgehen und nach Altlandsberg, Ahrensfelde und Hönow vorzustoßen. Weiter war geplant, die Verteidiger des inneren Rings von Berlin überraschend anzugreifen.

Text und Karte: F.J.Bokow "Frühjahr des Sieges und der Befreiung", Militärverlag der DDR, 1981


Die in den Berliner Zeitungen abgeduckten Situationsberichten aus dem Führerhauptquartier klangen erwartungsgemäß etwas anders:

Die "Deutsche Allgemeine Zeitung" (Berlin) berichtet in ihrer Ausgabe vom 21. April 45:

In der Schlacht um Berlin errangen unsere tapferen Divisionen beiderseits Frankfurt einen vollen Abwehrerfolg und stellten im Gegenangriff die alte Hauptkampflinie wieder her. Bei Müncheberg und Wriezen hat sich die Lage verschärft.
Trotz Gegenwehr gelang es starken feindlichen Panzerkräften aus dem Raum Müncheberg weiter nach Südwesten und Süden bis in den Raum von Tempelberg und Buchholz vorzustoßen. Gegenangriffe sind angesetzt. Bei Wriezen warfen die Sowjets neu herangeführte Verbände in den Kampf. Im Raum von Sternebeck und Prötzel wird erbittert gekämpft. Nach unvollständigen Meldungen wurden in der Schlacht vor Berlin gestern erneut 226 feindliche Panzer vernichtet.
Deutsche Allgemeine Zeitung, Berlin, 21. April 1945

Die Nachtausgabe der "Angriff" (Berlin) berichtet am 21. April 45:


Aus dem Führerhauptquartier 21. April:

Bei Frankfurt schlugen unsere Verbände alle Angriffe zurück.
Im Raum östlich Berlin wird in der Linie Fürstenwalde - Strausberg - Bernau erbittert gekämpft. Angriffe gegen diese Orte brachen verlustreich für den Feind zusammen.
Der Angriff / Berliner Illustrierte (Nachtausgabe), Berlin, 21. April 1945

Die "Deutsche Allgemeine Zeitung" (Berlin) bringt noch am nächsten Tag (22. April 1945), als die Rote Armee längst die Berliner Ost-Bezirke erreicht hatte, unter nachfolgender Überschrift den gleichen Bericht aus dem Führerhauptquartier (datiert auf den 21. April):




Unter der Überschrift "Der Stoß von Süden" findet sich in der "Deutschen Allgemeinen Zeitung" vom 22. April 1945 folgende Darstellung der aktuellen Situation:

... Aus dem Raum beiderseits Müncheberg konnten die Feinde gewisse Fortschritte in westlicher Richtung verbuchen, doch sind auch hier Gegenaktionen eingeleitet. In den Räumen Bernau, Strausberg und Müncheberg sind die Sowjets auf nachhaltigen, verbissenen Widerstand gestoßen, der sie nun schon mehrere Tage aufgehalten hat.
Deutsche Allgemeine Zeitung, Berlin, 22. April 1945

Mit den vorstehenden Ausgaben haben die beiden Zeitungen offenbar ihr Erscheinen eingestellt.
Die Nachtausgabe des Angriff vom 21. April 1945 und die "Deutsche Allgemeine Zeitung" vom 22. April 1945 sind zumindest die letzten Ausgaben, die im Landesarchiv Berlin in Reinickendorf auf Microfilm vorliegen.


Entgegen den offiziellen Frontberichten vom 21. April sind Angriffe der feindlichen Truppen nicht vor Bernau aufgehalten worden oder zusammengebrochen. Wie im nachfolgenden, als Teil einer Beitragsserie zum 50. Jahrestag des Kriegsendes am 18.3.1995 im "Niederbarnim Echo" der "Märkischen Oderzeitung" erschienenen Erlebnisbericht ausgeführt ist, sind die sowjetischen Truppen bereits am 20. April morgens nach Bernau eingerückt und am nächsten Tag mit ihrer "Kriegsbeute" weiter gezogen.:


Im Gefangenentransport bis Mehrow
Bericht der Bernauer Feuerwehr vom Einmarsch der Sowjettruppen

Bernau. In der Nacht zum Freitag, dem 20. April 1945, waren wir noch etwa 15 Kameraden, die Dienst taten. Die Stimmung war nicht sehr gut, da sich der Kanonendonner immer mehr näherte und ja auch bekannt wurde, daß sich die gegnerischen Truppen Bernau immer mehr näherten. In dieser Nacht wurden die Wachen halbstündlich abgelöst. Wir stellten dann fest, daß die feindlichen Panzer Bernau erreicht hatten und vor dem Königstor (heute Steintor, d. R.) aufgefahren waren. Dadurch hatten sie die Berliner Straße unter Kontrolle. Unsere Truppen zogen sich durch Bernau zurück. Es gab Verluste. Verwundete wurden in einer Sanitätsstelle behandelt, die in einem anderen Teil desselben Luftschutzkellers untergebracht war.

Die feindlichen Truppen hatten den Turm von Sankt Marien unter Feuer genommen. Offenbar vermuteten sie hier eine Beobachtungsstelle unserer Truppen. Da wir annahmen, daß unser Aufenthalt im Luftschutzkeller des Stadthauses Brauerstraße 8 von längerer Dauer sein würde, hatten wir uns mit Verpflegung eingerichtet. Wir hatten Brote, Butter und eine Tonne Heringe aus einem verlassenen Fischgeschäft. Doch Appetit hatten alle nicht mehr. Gegen Morgen war es dann soweit. Wir wurden im Luftschutzkeller von der Feindtruppe aufgefordert, ihn zu verlassen. Schwer bewaffnete Soldaten überwachten den Auszug.

Trotzdem gelang es einigen Kameraden, sich heimlich zu entfernen. Die übrigen mußten auf dem Hof antreten. Wir wurden nicht sogleich als Feuerwehr erkannt. Man glaubte wohl, es mit irgendeiner Formation der Partei zu tun zu haben. Deshalb beunruhigten uns die Maschinenpistolen. Unsere Legimation waren dann endlich unser Gerät und unsere Fahrzeuge. Trotzdem wurden wir als Gefangene behandelt.

Im Laufe des Vormittags des 21. April 1945 erfolgte unser Abtransport. Zunächst kamen wir zum Keller des Postgebäudes, wo noch Bürger unserer Stadt, die vorläufig festgenommen waren, ebenfalls hingebracht wurden.

Nach Vernehmungen erfolgte der Abmarsch zu Fuß durch die Kaiserstraße (Breitscheidstraße). Insgesamt waren es zirka 100 Personen, die zu einem Zuge zusammengestellt waren. Noch am selben Tage kamen wir, die Blumberger Chaussee passierend, nach Elisenau. In der dortigen Schule verbrachten wir die Nacht zum 22. April. Eine Kuh wurde dort geschlachtet, so daß wir hier auch die erste Verpflegung erhielten.

Während der Nachtstunden eigneten sich die Wachmannschaften die langen Stiefel einiger Kameraden an. Sie gaben ihnen dafür ihre Schnürschuhe, die teilweise überhaupt nicht paßten. Am nächsten Morgen wurde weitermarschiert über Birkholz, wo es noch brannte, Ahrensfelde nach Mehrow. Nach erneuter Vernehmung erhielten wir unsere Papiere zurück und wurden bis auf einige Ausnahmen entlassen. Wir waren frei und traten den Heimweg an.

"Märkische Oderzeitung / Niederbarnim Echo" vom 18.3.1995

Die Zitate aus dem Buch "Frühjahr des Sieges und der Befreiung" und den Artikel über den Gefangenentransport nach Mehrow haben wir der im Kreisarchiv Barnim befindlichen, umfangreichen "Materialsammlung zur Geschichte von Bernau, Biesenthal und dem Barnim von 1936 bis 1946" von Rudi Schinkel (Bernau) und Gertrud Poppe (Biesenthal) aus dem Jahre 1996 entnommen.