Jedes Jahr zieht es an einem Adventssonntag Heerscharen in unser Nachbardorf Eiche, weil dort stets ein schöner, sehr gemütlicher Adventsmarkt geboten wird.
Viele Besucher kommen vor allem wegen des Theaterstücks, das am Nachmittag aufgeführt führt. Da spielt das halbe Dorf mit und trotzdem ist der „Zuschauerraum“ brechend voll.
Hier scheut man keine Mühen, um das Theaterstück jedes Jahr zu einem Höhepunkt in der Adventszeit zu machen. Und neben den vielen Mitwirkenden auf der Bühne gibt es noch eine große Menge fleißiger Menschen, die sich neue Geschichten und passende Choreographien ausdenken, die das Stück einstudieren, Kostüme schneidern, Dekorationen basteln, die Technik aufbauen, Bänke aufstellen usw.
Die alle aufzuzählen ist kaum möglich und selbst wenn die unzähligen Akteure auf, vor und hinter der Bühne zu Gruppen zusammengefasst werden, dauert die Laudatio schon eine ganze Weile. Dieses Mal war das aber leicht zu ertragen, denn es herrschten sehr milde Temperaturen und es war trocken und fast windstill. Also hervorragendes Wetter für eine Theateraufführung im Freien - weniger gut vielleicht für die Verkäufer von Glühwein und Pudelmützen.
In diesem Jahr gab es ein Stück von hohem erzieherischen Wert. Es ging um ein junges Mädchen, das keinerlei Anstrengungen unternimmt, einen Ehemann zu finden.
Die Eltern (gekrönte Häupter, weshalb das Kind kein BAFÖG kriegt und richtig teuer ist) wissen nicht, was sie unter­nehmen sollen, um die Tochter unter die Haube zu bekommen.
Nun ist es zugegebenermaßen nicht ganz einfach, ein Mädchen zu verkuppeln, das „Antonella“ heißt. Das hätte man bei der Namensgebung bedenken sollen. Anderseits sind die Eltern selbst auch ein Hindernis bei der Paarung des Kindes. Welches Mädchen bringt schon gern einen Freund mit nach Hause, wenn dort der Vater mit einem albernen T-Shirt mit einem riesigen roten Herz auf der Brust herumläuft.
Um endlich Schwung in die Partnerwahl zu bringen, laden die besorgten Eltern die interessierten Freier nun nicht mehr einzeln, sondern gruppenweise ein: stattliche Burschen, die um die Wette buhlen. Ein bisschen stolz und schadenfroh macht es einen schon, dass das Eichener Königspaar auch auf Mehrower Menschenmaterial (unten, Mitte) zurückgreifen muss, um sechs attraktive Männer zusammenzubekommen. Wir leisten da aber gern Nachbarschaftshilfe.
Da stehen sie nun aufgereiht, die sechs potentiellen Ehe­männer und balzen, was das Zeug hält. Aber die Prinzessin hat keinen Blick für wahre männliche Schönheit, sondern nur für das Smartphone, mit dem man so wunderschön twittern (zwitschern) und chatten (schnattern) kann. Da kann man „Likes“ verteilen und die eigenen zählen, wozu braucht man da noch Menschen um sich? (Jetzt mal abgesehen von den Eltern, die monatlich die Mobilfunkrechnung bezahlen.)
Die Jungs taten wirklich alles, um die Aufmerksamkeit der jungen Dame auf sich zu ziehen, und versuchten mit allen gängigen Disko-Tricks, die Kleine zu betören.
Aber, wie schon so oft, hat die verwöhnte, arrogante Göre an jedem Bewerber etwas auszusetzen. Am härtesten trifft es dabei den Polizisten, der einen Hüftschwung präsentierte, mit dem man Sahne schlagen könnte. Der ist ihr zu sexy!
Ja geht's denn noch - alle anderen Mädchen würden sich die Finger lecken und vor Sehnsucht nicht schlafen können!
Aber auch der junge König mit dem güldenen Haar, der unter den Bewerbern ist, bekommt sein Fett ab. Sein Bart hat das Missfallen der jungen Dame gefunden - aber sie nennt ihn nicht wie den seligen Walter Ulbricht „Zickenbart“, sondern „König Drosselbart“. Ob Drosseln wirklich einen so schreck­lichen Bart tragen, kann nur der Ornithologe beantworten.
Aber bei der Suche nach einer Braut ist solch ein Bart ein k.o.-Kriterium. Da hilft (oft) nicht mal viel Geld auf der Kante, wie in diesem Fall. Tief gekränkt, aber nicht ganz hoffnungs­los zieht sich der junge König zurück - zu Mutti und Vati ins Schloss. Sein Erzeuger hat offenbar schon abgedankt, sonst wär er ja nicht König, sondern noch Prinz, wie olle Charles. Aber der hat wenigstens seine Camilla und ist nicht einsam.
Zum Glück gibt es die Figuren aus dem Wunderland, die immer zur Stelle sind, wenn irgendwo Trost zu spenden ist.
Da dieses geballte Aufgebot an Charme und Schönheit seinen Zweck völlig verfehlt hatte, beschlossen die Eltern des jungen Mädchens, jetzt andere Saiten aufzuziehen und das Prinzesschen in aller Härte mit dem richtigen Leben außer­halb der „sozialen Netzwerke“ zu konfrontieren.
Der oder die nächste, der vorbeikommt, soll sie mitnehmen, egal ob als Sklave oder Angestellte - der Übergang ist eh fließend. Und prompt tritt Frau Holle auf die Bühne.
Die gute Frau musste wegen der Klimaerwärmung umschulen und betreibt nun mit ihrem Startup-Unternehmen „Hollerando“ einen Lieferservice. Goldmarie konnte sie nicht übernehmen und Pechmarie wollte sie nicht - aber ganz allein ist das Geschäft einfach nicht zu bewältigen.
Frau Holle sucht also Personal und nimmt die Prinzessin von Wolke 7, obwohl die sich reichlich ungeschickt anstellt und sogar wegen einer Erbse im Bett rumjammert.
Statt eines bösen Rattenfängers, der die Kinder entführt und im Wasser verschwinden lässt, trat nun ein Paar auf die Bühne, das mit wirklich gut anzuhörendem Live-Gesang die Zuhörer beglückte und die Kinder herbeilockte.
ER sah dabei dem Herrn mit dem exzellenten Hüftschwung sehr ähnlich - und SIE war zweifellos ein Engel.
Da Frau Holle mit ihrem Lieferservice voll ausgelastet ist, kommt sie gar nicht mehr zum Bettenschütteln, weshalb die Kinder mit Schnee aus der Büchse (richtiger Schnee, nicht das Zeug, welches man auf der Disko angeboten bekommt) für etwas winterliche Atmosphäre sorgen mussten. Selbst als Schneeflocken verkleidet, drehten sie ihre Runden vor dem Publikum und versetzten die Bühne in eine Winterlandschaft - soweit das mit der knapp bemessenen Schneemenge ging. Hier sollte man nicht sparen! In den hinteren Reihen hat man gar nicht mitbekommen, dass es vorn geschneit hat!
Hänsel und Gretel ließen derweil die Pizza im Ofen anbrennen - oder war das verkohlte Etwas etwa noch die Hexe, die sie unlängst in den Backofen geschoben haben?
Egal, mit scharfer Salami und Peperoni drauf merkt keiner den Unterschied. Es ist keine Zeit, nochmal zu backen, denn schon klingelt bei der Firma Hollerando das Bestell-Telefon.
Der erste Lieferauftrag führte die Prinzessin zu Rotkäppchen und ihrer Großmutter.
Das Rotkäppchen hat gerade ein Gipsbein, weil sie beim Gang zur Großmutter die mitgeschickte Rotweinflasche selbst getrunken hat und danach gestürzt ist. Nun hockt sie bei der Großmutter in der Hütte mitten im Wald, mit schlechtem Handy-Empfang und ohne Internet - also vermutlich in Mehrow. Die Großmutter ist auch nicht mehr so gut drauf. Seit der Wolf sie gefressen hatte, hat sie es furchtbar mit dem Rücken. (Als Kind hat man sich schon immer gefragt, wie eine Großmutter in den Wolf passt!)
Das Eichener Königspaar schaut recht amüsiert zu, wie das Töchterlein zumindest ansatzweise arbeitet, statt nur auf das Handy zu starren. Ansonsten genießen die Monarchen ihre gewonnene Freiheit und bestätigen die Theorie, dass das Leben nicht mit der Zeugung beginnt, sondern wenn die Kinder aus dem Haus sind.
Aber das ist noch nicht das Happy-End. Es geht noch weiter, denn Arbeit kann man auch durch reiche Heirat ersetzen.
Gleich auf ihrem ersten Dienstgang wird die neue Hollerando-Angestellte mit den Gefahren des richtigen Lebens konfrontiert. Ein alter Jägersmann macht sich an die Kleine ran und will sie mit Alkohol gefügig machen.
So was sieht der Staatsanwalt nicht gern und es ist zudem für die Karriere hinderlich, vor allem wenn man vorbestraft und auf „Hartz 4“ ist. Der Jäger hat doch seinen Job verloren und ein Verfahren angehängt bekommen, weil er seinerzeit den Wolf nach Entfernen der Großmutter mit Steinen vollgefüllt und im Brunnen versenkt hat.
Das mag der NABU überhaupt nicht!
Wenn der Wolf die Großmutter frisst, dann ist das nicht weiter schlimm, denn die steht ja nicht unter Artenschutz. Aber umgekehrt: Wenn die Großmutter den Wolf beißt, dann gibt das Ärger. Und „im Brunnen versenken“ ist gar nicht erlaubt!
Wie das so in der freien Wirtschaft so ist - ausgerechnet in der Vorweihnachtszeit wird gestreikt. Wieder mal das Bodenpersonal! Dieses Mal das Bodenpersonal des Weihnachts­mannes. Verdi hat beschlossen, den alten Mann und seine Kunden zu ärgern und nun stapeln sich die Pakete in der Postfiliale, wie das ehemalige Postamt heute so schön heißt. Darunter auch Kisten und Kartons mit lebenden Tieren - und zwar nicht nur mit Weihnachts­gänsen, Puten, Enten und so weiter, um die es in ein paar Tagen eh geschehen ist.
Nein, in einem Paket, das fälschlicherweise mit Auguste's Bild versehen war, verbarg sich keine dumme Gans, sondern ein stolzer Hahn, der laut krähend seinen Kopf heraussteckte, als der zufällig vorbeikommende König Drosselbart aus lauter Neugierde den Karton öffnete.
Ein komischer Vogel: Kaum gerettet, kräht er schon was von Gemeindevertretersitzung und Etat-Verabschiedung in die Runde. Angeblich wird er im Rathaus gebraucht ...
Der König Drosselbart, der sich hier gerade als Tierschützer betätigt hat, ist ansonsten ein ziemlicher Trottel. Auf zehn Schritte passieren da zwei Unglücke. So rennt er, noch von seiner Rettungstat berauscht, gegen den Lieferwagen der Prinzessin und begeht danach auch noch Fußgängerflucht.
Das arme Mädchen sitzt nun zwischen zerbrochenem Mitropa-Geschirr und jammert, weil das Ärger mit der Chefin gibt. Wo kann man heute noch Mitropa-Geschirr klauen?
Bestimmt darf sie demnächst nur noch Kaffee und Cola in Pappbechern und Essen auf Papptellern liefern, was doch aber umweltschädlich ist.
Die Figuren aus Alice's Wunderland versuchen, Trost zu spenden. Vergebens!
Der Unfallverursacher hat zum Glück bei der Flucht einen Schuh verloren und das Mädchen begibt sich nun auf die Suche nach dem Mann mit dem passenden Fuß.
Oder war das ein anderes Märchen? Egal, irgendwann steht sie vor dem richtigen Haus und trifft dort zu ihrem Erstaunen den einst verschmähten König mit dem Ziegenbart an. Nun reut es das Mädchen, dass sie ihn verschmäht hat - bis auf das behaarte Kinn ist er ja ganz passabel.
Aber was hat sie sich da so - andere küssen Frösche, um zu einem Prinzen zu kommen, obwohl nur jeder zehnte Frosch ein verwunschener Prinz ist. Und sie ziert sich wegen ein paar Fransen am Gesichtsfortsatz, obwohl sie einen richtigen König haben könnte! Nicht nur einen Prinz wie Charles!
Als er sich nun großherzig bereiterklärt, die missratene Zierde seines Kinns zu entfernen, um ihre Liebe zu gewinnen, wendet sich das Blatt. Bevor er es sich anders überlegt, holt die Prinzessin den bei Rossmann erworbenen „Arm- und Bein-Rasierer für Prinzessinnen und andere junge Damen“ aus der Handtasche und legt Hand an des Königs Kinn.
Ritsch-Ratsch und der güldene Bart ist ab.
Mit nacktem Kinn bekommt der König „Ohnebart“ dann sogar einen halben Kuss, was in Königshäusern auch heute noch als Einverständnis in eine baldige Hochzeit angesehen wird.
Eltern und Schwiegereltern sind sich schnell einig - beide sind froh, ihre am Elternhaus klebenden Kinder endlich loszuwerden und einer schönen Hochzeitsfeier ist man auch nicht abgeneigt. Jetzt gibt es noch den obligatorischen Kniefall des Bräutigams, der in früheren Jahrhunderten als Höhepunkt der Anmache galt. Nun kann die Party steigen.
Rotkäppchen und ihre Großmutter sitzen wie beim Fernsehen in der ersten Reihe - gut mit Getränken versorgt.
Zur Hochzeitsgesellschaft, die nun auf der Bühne Aufstellung nimmt, gesellt sich auch der vorhin auf dem Postamt aus der stehen gebliebenen Gänsekiste gerettete Hahn.
Der Verdacht, dass es sich bei dem Hahn um einen ver­kleideten Promi handeln könnte, hat sich bestätigt, denn plötzlich steht er da mit einem Leibwächter an der Seite.
Jetzt wird überall geklatscht, das Publikum jubelt den Schauspielern zu, die beklatschen sich gegenseitig.
Die einzigen, die noch ihre Arbeit tun, sind die eifrigen Kinder der Eichner Kita „Regenbogen“, die unentwegt als Schneeflocken ihre Runden drehen, und das Sängerpaar, das völlig zu Unrecht noch ohne Plattenvertrag ist.
Großes Lob erntet auch wieder der Erzähler mit der roten Mütze, der erkennen ließ, dass er ein echter Profi ist.
Ein anderer hätte bei dem Märchen-Misch-Masch längst den Überblick verloren. Es war mal wieder fast alles vertreten, was ein gut sortiertes Regal mit Märchenbüchern zu bieten hat. Eigentlich fehlten nur noch das tapfere Schneiderlein und der gestiefelte Kater - die sind aber vielleicht auch nur dem unaufmerksamen Zuschauer entgangen.
Anschließend hieß es noch eine ganze Weile Stillstehen, bis alle auf die Akteure gerichteten Fotoapparate mindestens zehnmal geklickt hatten.
Bis hierher ging es ja noch sehr gesittet zu, aber dann trat der Vertreter von „Jägermeister & k.o.“ auf den Plan, der im vorigen Jahr noch als Schürzenjäger unterwegs war. Aber die von der Leine geklauten Dederon- und Malimo-Schürzen haben nicht den erwarteten, reißenden Absatz gefunden.
Sein neuer Job liegt dem Jägermeister viel besser. In seiner Umgebung sind alle gut gelaunt und prosten ihm freundlich zu, wenn er denn schnell genug nachschenkt. Ob Ausgaben (= Ausschank) und Einnahmen immer im richtigen Verhältnis stehen, sei mal dahin gestellt.
Dem aufmerksamen Betrachter der Szene entgeht dabei nicht, dass Hähne und Engel auch nur Menschen sind.
Wir sind doch alle kleine Sünderlein.
Für große Sünder hätten wir da einen Polizisten, aber heute waren nur seine Hüften und Stimmbänder gefragt, der Gummiknüppel konnte den ganzen Tag ruhen. Die Eichner sind doch im Schnitt genauso nett und brav wie wir hier in Mehrow, wenn man mal ein paar schwarze Peter wegdrückt.
Wie der Polizist mischten sich jetzt auch die anderen Darsteller des Theaterstücks unter das gemeine Volk und verschwanden in dem Getümmel zwischen den im Halbkreis aufgebauten Buden. Auch wenn der Markt wieder nicht sehr groß war, gab es doch viel anzuschauen und schöne Dinge zu kaufen. Und natürlich gab es auch leckere Sachen zu essen und zu trinken.
Man hätte hier sogar seinen Weihnachtsbaum kaufen können und dann die knapp zwei Wochen bis zum Fest nicht mehr aus dem Haus gemusst.
Trotz schmelzender Polkappen, versinkender Malediven und anderer untrüglicher Zeiten des Klimawandels (zum Beispiel warmes Bier in manchen Gaststätten) hat sich doch wieder jemand getraut, den Posten von Frau Holle zu übernehmen.
Die gute Frau ist aber noch in der Einarbeitung. In diesem Jahr wird es deshalb keinen Schnee zu Weihnachten geben, da sind eher so um die 15 Grad angesagt. Da möchte man kein Rentier sein und mit dickem Fell und roter Mütze vor den Schlitten des Weihnachtsmannes gespannt werden.
Bleiben Sie gesund und machen Sie es wie der König:
Nach der Arbeit die Krone ab und den Feierabend genießen!